Begegnungen mit China und seinen Nachbarn. Malaysia – Hongkong – Indonesien – Taiwan – Mongolei – Tibet – Japan – Indien by Pankaj Mishra

Autor:Pankaj Mishra [Mishra, Pankaj]
Die sprache: deu
Format: epub
ISBN: 9783104033297
Herausgeber: FISCHER E-Books
veröffentlicht: 2015-05-21T16:00:00+00:00

Es war dunkel, als der Zug, nachdem er rasch die Außenbezirke Lhasas durchquert hatte, in das große Gewölbe des neuen Bahnhofs der Stadt einfuhr. Die Lautsprecherdurchsagen hallten von der hohen Decke, den breiten Bahnsteigen und den Fußgängerunterführungen wider und lösten sich in ein Gewirr unverständlicher Echos auf. In der neonbeleuchteten Betonwüste draußen wirkte die zerfasernde Menge der ermüdeten Passagiere kleiner, als sie war. Der Parkplatz lag mehrere hundert Meter vom Hauptgebäude entfernt, und die VBA-Soldaten mit ihren Maschinenpistolen wie auch der Kontrollpunkt auf der in die Innenstadt führenden Straße erinnerten an chinesische Sorgen um die Sicherheit in Tibet.

An meinem ersten Morgen in Lhasa betrachtete ich das von den Chinesen erbaute Stadtviertel – ein Raster aus langen, von Supermärkten, Restaurants, Bars und Nachtclubs gesäumten Straßen – mit Woesers Augen. Die Altstadt – mit dem Jokhang, dem heiligsten Tempel Tibets in ihrem Zentrum – wirkte seit langem schon wie eine Oase in der hektisch und protzig wachsenden Stadt und schien seit meinem letzten Besuch noch weiter geschrumpft zu sein. Doch sie hatte nicht die Atmosphäre einer mittelalterlichen Markt- und Wallfahrtsstadt verloren: Muslime aus Kasachstan mit ihren flachen Kappen und dünnen Bärten präsentierten mosaikförmig ausgelegte Nüsse und Trockenfrüchte; in Läden ohne Vorderwand verkaufte man getrocknetes Yak-Fleisch und Yak-Käse; in Antiquitätenläden bot man Gebetsmühlen, Halbedelsteine, Dolche und Sättel an. Unter die Händler und Straßenverkäufer mischten sich Pilger, die sangen und Gebetsmühlen drehten, während sie den goldbedachten Jokhang-Tempel umrundeten. Eine geheimnisvolle Euphorie schien diese Pilger anzutreiben, die sich mit ihren ausgefransten Handschuhen und Knieschützern in den Staub warfen, oder jene winzige alte Matriarchin in fettigen Kleidern, die ihre Stirn immer wieder gegen die verblichenen, in der heiligsten Kapelle des Potala-Palasts hängenden Seidenschals drückte.

In der ständig wachsenden chinesischen Stadt waren neue Mischidentitäten im Angebot. Die drei weißen Bögen der Eisenbahnbrücke über den Kyichu-Fluss sollten offensichtlich an die Khatags erinnern, die Seidenschals, die in Tibet traditionell als Zeichen der Verehrung gelten. Der Bahnhof, ein Kolossalbau mit schrägen Außenwänden in Weiß und Ochsenblutrot, schien in der Größe wie in den Details mit dem Rot und Weiß des Potala-Palasts konkurrieren zu wollen, der sich auf einer großen Felsnase im Norden Lhasas über der Stadt erhebt. Solche ausgewählten Anleihen sind Ausdruck der Tatsache, dass Tibet und der tibetische Buddhismus in den letzten Jahren bei neureichen Han-Chinesen eine Verehrung ausgelöst haben, die man fast schon als Kult bezeichnen könnte. Eine modische chinesische Dichterin, der ich letztes Jahr in Beijing begegnete, blies perfekte Rauchringe in die Luft, während sie über die Unreife der städtischen chinesischen Kultur lamentierte und ein tiefes Interesse für Tibet bekundete. Kekexili (Gebirgspatrouille), ein populärer chinesischer Spielfilm, der 2004 herauskam, brachte diese neue Liebe der Chinesen sehr geschickt zum Ausdruck und stellte die Tibeter als ein stolzes, bodenständiges und aufrechtes Grenzvolk dar. In fast jeder größeren chinesischen Stadt gibt es Läden, die »buddhistische Accessoires« verkaufen, wie es auf einem Schild in der Innenstadt von Shanghai heißt: tibetische Gebetsmühlen, Glocken und Weihrauch.

In meinem Hotel, dem Brahmaputra Grand, stellte man in Glasvitrinen alte Gewehre, Schwerter, Rüstungen, Metallutensilien, tibetische Masken und Statuen

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